Was wir nicht voneinander wissen

(Ausschnitt)
 

Wir sind beide fremd hier. Die eine ist erst vor kurzem in das himmelblauen Haus gezogen. Sie hat sich getrennt und lebt nun allein. Sie muss sich noch daran gewöhnen, dass ihr keiner zuhört, wenn sie nach Hause kommt. Sie schaltet das Radio ein und manchmal redet sie mit sich selbst. Hört ja niemand.

Der andere hat einen langen Weg hinter sich. Seine Kleider sind aus zweiter Hand. Seine Familie hat ihn in die Fremde geschickt, damit er in Sicherheit ist. Er kann sich nicht an den Gedanken gewöhnen, sie nie wieder zu sehen. Er hofft, dass alles gut wird. Das kann ihm niemand verbieten.

Die Asylunterkunft betrachten wir beide mit gemischten Gefühlen. Die eine hat Decken und Kissen gespendet. Das Bettzeug erinnerte sie an früher, es ist gut, dass es aus dem Haus ist. In der Unterkunft sind Familien und unbegleitete Jugendliche untergebracht. Die Männer zeigen sich auf der Straße, Frauen und Mädchen bleiben unsichtbar. Das ärgert sie.

Der andere wacht jede Nacht auf, sein Herz trommelt, er drückt das Gesicht ins Kissen, damit niemand hört, wie er weint. Er ist in Sicherheit und hat einen Freund gefunden. Gemeinsam vertreiben sie sich die Zeit, reden über die Heimat, fahren durch die Stadt und lassen abweisende Blicke an sich abperlen. Zu zweit geht das leichter.

Obwohl wir uns nicht ansehen, wenn wir uns auf dem Platz begegnen, erkennen wir etwas wieder. Die eine erinnert sich an ihren Neffen: die gebeugten Schultern („geh aufrecht“), die schüchterne Neugier. Der andere hatte eine Halbschwester, von der es hieß, sie sei eine Hure. Sie wohnte alleine in einem Vorort, empfing gerne Besuch und redete über Männersachen: Politik, Religion und wie man einen Gasherd repariert. Auf der Straße hatte sie ihre eigene Methode, sich alles anzusehen, während sie die Augen gesenkt hielt. Das war vor dem Krieg.

Wenn wir einander auf dem Platz begegnen, gehen wir zügig aneinander vorbei. Wir trödeln nicht. Eines Vormittags allerdings sitzt die eine auf einer Bank in der Grünanlage.

In: Die Rampe - Hefte für Literatur 1/2019
Hg. vom Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich / StifterHaus, Linz